
Über Auslandsjournalismus
Michel Friedman: „Auslandsjournalismus ist unsere Gehirn-Erweiterung“
Aus der Rede von Michel Friedman zur ersten Preisverleihung
Wie leben Menschen? Wie überleben Menschen? Wie schaffen Menschen anderswo, mit denselben Problemen, die wir haben, andere Lösungen zum Leben und zum Überleben zu finden, und manchmal sogar konstruktive, interessante, zukünftige? Wie ist Fortschritt für uns als Menschen überhaupt entstanden, wenn nicht dank der Neugier, dank dem Interesse an Menschen? Wann ruhen wir uns nicht mehr aus, oder glauben, wir können uns eigentlich ausruhen?
All diese Fragen haben mit unserem Thema zu tun. In der heutigen Welt, spätestens, zu glauben, man sei selbst deren Mittelpunkt, man könne sich abkapseln; es könne uns gut gehen, auch wenn es den anderen nicht gut geht, ist von einer unentschuldbaren Naivität und großen Unvernunft geprägt.
Auslandsjournalismus ist im doppelten Sinne immer auch Inlandsjournalismus. Er ist einerseits Inlandsjournalismus für das Land, aus dem man kommt, um dessen Menschen zu informieren. Aber mittlerweile ist er auch ein Inlandsjournalismus für die Menschen, in deren Land man lebt, aus deren Land man berichtet. Gerade in Diktaturen ist der „Auslandsjournalismus“ oft eine Orientierung gegen die Propaganda. Sie gibt Mut. Sie hilft. Sie steht zur Verfügung. Sie wird in diesen Bevölkerungen sehr intensiv wahrgenommen, weil die Fragen eines freien Journalisten, einer Journalistin dann eben doch andere sind als die eines bestellten.
Auslandsjournalismus, ist unsere Gehirn-Erweiterung. Ist unsere Perspektiven-Erweiterung. Ist unsere Chance zu verstehen, was außerhalb von uns passiert. Und ich möchte deutlich sagen: Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen sich auch die Mühe machen würden, ich würde sagen das Vergnügen, sich damit zu beschäftigen, was bei uns selbst passiert. Diese Überraschtheit der Öffentlichkeit ist erstaunlich: Ob gestern über das Aushebeln einer vermeintlich terroristischen Organisation, als ob das die erste wäre. Oder darüber: Es gibt einen Krieg, 2022, in der Ukraine. Waren unsere Ohren verstopft, 2014? Hatten wir keine Lust, unsere Ohrstöpsel herauszunehmen? Was wüssten wir von dem Krieg, wenn uns nicht mutige Menschen, die in der Tat ihr Leben riskieren, von seiner Realität und Komplexität berichteten?
Wer glaubt in unserer Gegenwart wirklich, dass es noch nationale Politik gibt? Und doch merken wir, dass es in diesem 21. Jahrhundert eine neue Neigung gibt, Grenzen wieder aufzubauen. Nationalismus wieder in den Mittelpunkt zu stellen.
Natürlich wird uns die Außenpolitik immer unser eigenes Dilemma vorspielen. Ob China, ob Russland, ob Iran, ob hunderte Millionen Menschen, die verhungern und verdursten, weil wir uns über sehr lange Zeit durch unseren Wohlstand – und es ist nicht nur das Stichwort Klimapolitik – bereichert und uns das Leben gegönnt haben, währenddessen sie immer mehr ans Überleben denken müssen.
All die Berichterstattung aus diesen Ländern belästigt uns manchmal. Sie zwingt uns, in einen Spiegel zu schauen, den wir vermeiden könnten. Es ist der Spiegel, der uns zeigt, wohin die Entwicklung gehen kann, wenn man, weil man gesättigt ist, eine Nonchalance des Antidemokratischen annimmt. Es ist auch ein Spiegel, der uns Hoffnung macht. Außenpolitik und Auslands-Berichterstattung ist im wahrsten Sinne aufklärerisch, motivierend, an- und aufregend.
Wir wissen so wenig. Und urteilen so viel und so schnell. Ich bin froh, dass ich ein bisschen mehr wissen kann, weil es Menschen gibt, die in andere Länder, und mir die Informationen bringen, damit ich nachdenken und Brücken bauen kann, oder sehe, wer wo an welchen Brücken sägt. Es geht um das Wissen. Es geht um das Denken. Es geht um das Zeigen. Denjenigen, die das tun, und nicht nur unseren Preisträger:innen, möchte ich meinen großen Respekt und meinen tiefen Dank ausdrücken.
Aufgezeichnet von Daniel Roßbach, Frankfurter Rundschau
Michel Friedman bei der ersten Preisverleihung im Frankfurter Kaisersaal 2022, Foto: Monika Müller